13. September 2021

Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und warum sie unter Umständen in Frage gestellt werden darf

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Am 08. September 2021 hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) ein wegweisendes Urteil (5 AZR 149/21) gesprochen. Die voraussichtlichen Auswirkungen für Unternehmen und Mitarbeiter:innen skizziert unsere Expertin Stephanie Grezian.

Die Hintergründe zum Urteil

Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen kennen das Phänomen: ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin kündigt das Arbeitsverhältnis und lässt sich daraufhin umgehend für die restliche Arbeitszeit krankschreiben. Arbeitgeber:innen müssen bis zum endgültigen Ausscheiden weiterhin Lohn zahlen, und zwar ohne dass der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin hierfür eine Arbeitsleistung erbringt. Ein solches Verhalten wirft daher oft Zweifel auf. Bisher hatten Unternehmen in einem solchen Fall aber kaum eine Handhabe, die Arbeitsunfähigkeit des Mitarbeitenden zu überprüfen. Ein Urteil des BAG hat die Situation der Arbeitgeber:innen nun drastisch verbessert.

Gesetzlichen Grundlagen einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Grundsätzlich hat jeder, der arbeitsunfähig erkrankt, gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG sechs Wochen lang einen Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Dabei haben Arbeitgeber:innen kein Anrecht darauf zu erfahren, warum jemand arbeitsunfähig ist. Arbeitnehmer:innen sind jedoch verpflichtet, einen ordnungsgemäßen Nachweis über die Arbeitsunfähigkeit zu erbringen. Der Nachweis darüber, dass tatsächlich eine Arbeitsunfähigkeit besteht, wird mittels einer durch einen anerkannten Arzt bzw. eine anerkannte Ärztin ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung („gelber Schein“) erbracht. Der Beweiswert dieses „gelben Scheins“ ist hoch. Liegt ein solcher vor, gehen die Arbeitsgerichte sowie das BAG in der Regel davon aus, dass Arbeitnehmer:innen tatsächlich nicht arbeiten konnten. Nur im absoluten Ausnahmefall besteht trotz ärztlicher Krankschreibung Grund zur Annahme, dass objektiv keine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vorliegt. Oder sogar, dass eine Arbeitsunfähigkeit nur vorgetäuscht wird.

In der Vergangenheit lagen solche Situationen dann vor, wenn Arbeitnehmer:innen ankündigten “krankfeiern“ zu wollen.  Das geschieht mitunter als Reaktion auf einen nicht bewilligten Urlaub. Ein weiterer Grund ist in der Regel, wenn Arbeitnehmer:innen in der Zeit der Arbeitsunfähigkeit einer anderen Erwerbstätigkeit nachgingen. Auch Aussagen des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin gegenüber Arbeitgeber:innen können die Beweiskraft der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern. Wenn er oder sie beispielsweise erwähnt, während der Arbeitsunfähigkeit „topfit“ gewesen zu sein und die Arbeitsleistung bewusst vorenthalten zu haben.

Der konkrete Fall

In dem jetzt vom BAG entschiedenen Verfahren klagte die das Arbeitsverhältnis kündigende Mitarbeiterin einer Zeitarbeitsfirma auf Zahlung des ausstehenden Lohnes. Die Klägerin war seit August 2018 im Unternehmen des Beklagten beschäftigt. Ein halbes Jahr später kündigte sie das Arbeitsverhältnis und legte eine auf den gleichen Tag datierte als Erstbescheinigung gekennzeichnete Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor. Der Arbeitgeber verweigerte daraufhin die Entgeltfortzahlung und berief sich darauf, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert sei, weil diese genau die Restlaufzeit der Kündigungsfrist umfasse. Die Arbeitnehmerin gab an, vor einem Burn-Out gestanden zu haben. Die Vorinstanzen gaben der Klägerin recht und verurteilten den Arbeitgeber zur Zahlung.

Revision hatte Erfolg – Beweiswert erschüttert

Die Revision der beklagten Arbeitgeberseite vor dem BAG hatte jedoch Erfolg. Richtig ist, dass die Arbeitnehmerin im besagten Zeitraum ihre Arbeitsunfähigkeit zunächst mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachgewiesen hat. Diese Bescheinigung ist auch das gesetzlich vorgesehene Beweismittel. Jedoch hält das BAG weiterhin daran fest, dass der Beweiswert des „gelben Scheins“ dann erschüttert sein kann, wenn der Arbeitgeber tatsächliche Umstände darlegt und darüber hinaus möglicherweise beweisen kann, dass ein Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit besteht. Wenn ein ernsthafter Zweifel vorliegt, muss der oder die Arbeitnehmer:in substantiiert darlegen und beweisen, dass er bzw. sie tatsächlich im angegebenen Zeitraum arbeitsunfähig war. Ein solcher Beweis kann beispielsweise durch die Vernehmung des behandelnden Arztes erbracht werden.

Das BAG sieht einen solchen ernsthaften Zweifel dann als gegeben an, wenn sich Arbeitnehmer:innen nach der durch sie erfolgten Kündigung für die gesamte Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses krankschreiben lassen, das Datum der Erstbescheinigung auf das Kündigungsdatum fällt und das Ende der Arbeitsunfähigkeit dem letzten Arbeitstag entspricht.

Unsere Einschätzung

Sollten Arbeitnehmer:innen tatsächlich erkrankt sein und können die Krankheit beweisen, sind Arbeitgeber:innen auch in dem Fall einer Krankmeldung nach erfolgter Kündigung zur Lohnfortzahlung verpflichtet. Im hiesigen Fall obsiegte der Arbeitgeber vor dem BAG, da die Arbeitnehmerin ihrer Darlegungslast nicht hinreichend konkret nachkam. Sie konnte ihre – vermeintliche – Erkrankung nicht nachweisen.
Es bleibt abzuwarten, welche konkreten Auswirkungen das Urteil – trotz der Aberkennung des Beweiswerts in diesem Fall – auf die Arbeitswelt haben wird. Denn hier kam der Zweifel ja auf, weil es übereinstimmende Daten in Kombination mit der vorausgegangenen Kündigung gab und dieses Detail leicht umgangen werden kann.

Haben Sie Fragen zum Thema Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oder grundsätzlich zum Thema Arbeitsrecht?
Dann kommen Sie jederzeit gern auf uns zu!

Johannes Dähnert

CSO, CCO, CHRO, Partner, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht

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